Der Amtsarzt im ...

Abenteuer eines Amtsarztes
Unglaublich wahre Kurzgeschichten

... Lauf der Zeit

29. Der Büroschlaf

Über Beamte kursieren völlig unverständlicherweise ungezählte Witze, wobei Vergleiche mit Schnecken noch die harmloseren sind. Nur eine Kostprobe zur Nestbeschmutzung: Der Beamte wird mittags vom Kollegen geweckt mit der Frage: "Gehst du mit zum Essen oder arbeitest du heute durch?"

All diesen Späßen zum Trotz hat der Amtsarzt aber den Eindruck, dass sein Tagesablauf eher dem von Topmanagern oder Bundeskanzlern ähnelt. Dies soll der folgende Bericht "Ein Tag im Leben des Dr. Volker Juds" belegen.

7.00 Uhr: Es beginnt der tägliche Kampf um die morgendliche Körperhygiene. Bei acht Personen im Haushalt, darunter fünf weiblichen und nur zwei Bädern ein wie immer aussichtsloses Unterfangen. Also Zähneputzen und Haarewaschen später im Büro.

7.30 Uhr: Noch zu Hause Frühstück und Zeitungslektüre. Nach dem Sport wird der Lokalteil studiert in der bangen Hoffnung, das Gesundheitsamt möge nicht drin stehen. In einem Leserbrief greift ein Heilpraktiker die geldgierigen und impfwütigen Ärzte an. Also Gegendarstellung vormerken.

8.00 Uhr: Im Amt. Als erstes die eingegangenen E-Mails abfragen und beantworten. Dank der einfachen, einprägsamen und damit für den Amtsarzt verhängnisvollen Internetadresse des Gesundheitsamtes Garmisch unter www.gesundheitsamt.de wendet sich die ganze Welt an uns. Herr B. aus Augsburg teilt mit, dass er eine vergiftete Fischsemmel gegessen habe. In Aachen ist eine Wohnung mit Fäkalien überspült. Herr V. aus München möchte einen Suchtberatungstermin, allerdings in München. Frau C. aus Göttingen möchte wissen, ob sie nach Absetzen der Pille wieder Kinder bekommen kann, und Herr M. aus Berlin hat einen Ausschlag an seinem Penis entdeckt. Frau K., zur Zeit in Bolivien, benötigt dringend Informationen über Hantaviren und Prof. D. in Tokio die deutschen Impfempfehlungen.

8.45 Uhr: Anruf vom Herrn Schulrat. Ein schwerhöriges Kind kommt in der Regelschule nicht mit und soll deshalb an die entsprechende Sonderschule in München überwiesen werden. Der Vater sperrt sich dagegen. Für seinen Bescheid braucht der Schulrat die Stellungnahme des Schularztes. Terminvergabe für den nächsten Hörbehindertensprechtag.

8.55 Uhr: Ein Kinderpsychologe ruft an, weil er in einem hiesigen Hotel eine psychotherapeutische Fachklinik für Kinder und Jugendliche einrichten möchte. Das Gesundheitsamt soll die Räumlichkeiten auf ihre Eignung hin begutachten. Ein gemeinsamer Besichtigungstermin wird vereinbart.

9.00 Uhr: Die erste amtsärztliche Untersuchung. Seit Wegfall der Grenzkontrollen zu Österreich und Versetzung in die Ferne sind auffällig viele Zollbeamte im besten Mannesalter dienstunfähig erkrankt. Der 50-Jährige leidet unter Verschleißerscheinungen an Wirbelsäule und Gelenken, fühlt sich gemobbt und sucht den Dienst nur auf, wenn er gut geschlafen hat und beschwerdefrei ist. Laut Fehlzeitenliste ist dies wohl eher die Ausnahme. Nach gründlicher Untersuchung und Rücksprache mit dem Hausarzt wird der Beamte ab sofort für dienstfähig erklärt. Der Amtsarzt befürchtet allerdings, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann ihm der Kandidat wieder vorgestellt wird.

10.00 Uhr: Ein gerade 14 Jahre alt gewordener Landwirtssohn möchte vorzeitig den Traktorführerschein L erwerben. Dies ist ausnahmsweise möglich, wenn er den Reifezustand eines 16-Jährigen aufweist. Nachdem dieser allerdings nicht genau definiert ist, hat der Amtsarzt die Wahl zwischen Fragen zur Allgemeinbildung ("Wo geht die Sonne auf?", "Wo lebt und wovon ernährt sich der ägyptische Lämmergeier?" und "Was bedeutet das Sprichwort: Keine Rose ohne Dornen?") und speziellen Testverfahren mit Ermittlung von Prozenträngen, die die Eltern mehr beeindrucken. Kein Wunder, dass die Bestehensquote an den Gesundheitsämtern zwischen 50 und 100 % schwankt.

10.30 Uhr: Anruf aus dem Landratsamt. In einer ehemaligen US-Kaserne wurde der Schadstoff DDT nachgewiesen, eine Krisensitzung für 13.00 Uhr anberaumt. Wegen der notwendigen Vorbereitung wird die Mittagspause also ausfallen müssen. Der Amtsarzt lässt sich die im Amt vorhandenen spärlichen Unterlagen heraussuchen. Leider findet sich ausgerechnet zu DDT noch nichts in seiner Homepage. Also eigenen Beitrag vormerken (siehe inzwischen dort).

10.35 Uhr: Anruf eines Betreuers. Sein Klient sei wieder einmal psychotisch, habe randaliert und sitze gerade in der Polizeiinspektion im 25 km entfernten Murnau ein. Der Amtsarzt solle unverzüglich die Notwendigkeit einer geschlossenen Unterbringung, also einer zwangsweisen Einlieferung ins 100 km entfernte Bezirksnervenkrankenhaus feststellen (Die Psychiatrie am hiesigen Klinikum wird leider erst in drei Wochen eröffnet). Wegen der weiteren Termine und des absoluten Zeitdrucks wird der Anrufer an niedergelassene Kollegen verwiesen. Sollte er keinen Erfolg haben, möge er sich nochmals melden. Der Amtsarzt könne frühestens nach Dienstschluss vorbeischauen.

10.40 Uhr: Anruf der Heimaufsicht des Landratsamtes. Es werden gemeinsame Besichtigungstermine für Altenheime vereinbart.

10.45 Uhr: Anonymer Aidstest bei einem entzweiten Paar. Im Urlaub in Spanien hatte sich die Ehefrau, Mutter von zwei kleinen Kindern, in gehobener Ferienstimmung mit einem Unbekannten eingelassen und den Seitensprung jetzt gebeichtet.

11.00 Uhr: Vorsprache einer Pharmareferentin. Sie möchte über die aktuellen Verbreitungsgebiete der von Zecken übertragenen FSME (Frühsommer-Hirnhautentzündung) informieren. Den größten Gewinn hat der Amtsarzt von der Handvoll überreichter Reklame-Kugelschreiber.

11.15 Uhr: Eine weitere Bewerberin für die freie Sozialarbeiterstelle stellt sich vor. Zum sechsten Mal erläutert der Amtsarzt den Aufbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Bayern im allgemeinen und die Aufgaben des Gesundheitsamtes im speziellen. Im Anschluss tauscht er sich mit seinem Stammpersonal aus und notiert seine Eindrücke über das Vorstellungsgespräch für den Bericht an die Regierung.

11.45 Uhr: Endlich erreicht er den Fachmann vom Landesuntersuchungsamt und erbittet Unterlagen zu DDT per Fax sofort auf den Tisch. Weiter erkundigt er sich beim Kollegen des Nachbaramtes, der das Problem gerade hinter sich hat, über dessen Vorgehensweise. In einem Rundumschlag richtet er per E-Mail Anfragen an Umweltbundesamt, Gesundheits- und Ernährungsministerium, Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz, Umweltberatung Bayern und seine Regierung.

12.10 Uhr: Eine Verwaltungsangestellte beschwert sich, dass nach der PC-Vernetzung in ihrem Büro noch kein Kabelschacht verlegt wurde.

12.15 Uhr: Die Sozialpädagoginnen kommen mit der Statistik über ihre Schwangerschaftsberatungen nicht klar. Sie werden auf den späten Nachmittag vertröstet.

12.20 Uhr: Endlich Ruhe im Amt, weil alle anderen in der Mittagspause sind. In fliegender Eile studiert der Amtsarzt sämtliche Informationen, die er zu DDT erhalten hat. Zwei Knackpunkte bereiten ihm Magengrimmen. Das Insektizid ist zumindest im Tierversuch krebserregend und es gibt keine allgemein verbindlichen Richt- und Grenzwerte zu Staub- und Luftbelastungen. Der Kollege im Nachbaramt hat einen Unbedenklichkeitswert von 40 mg DDT/kg Staub festgelegt, das Umweltbundesamt von 100 mg/kg und er selbst kommt bei allen Berechnungen nur darauf, dass auch 1000 mg/kg nicht gesundheitsgefährdend sind.

13.00 Uhr: Krisensitzung zu DDT im Landratsamt. Landrat, Bürgermeister, Pressesprecher und Vertreter des Bauamtes schauen alle auf den Amtsarzt, weil von dessen medizinischer Bewertung das weitere Vorgehen abhängt. Der Amtsarzt trägt sein gerade angelesenes Wissen über Anwendung, Aufnahmepfade, Speicherung und gesundheitliche Auswirkungen vor. Entscheidend sind die Fragen, ob bei den bisher festgestellten Konzentrationen eine Gefährdung der Bevölkerung besteht und ob und ab welchen Werten eine Sanierung angeordnet werden soll und wer diese bezahlen muss. Der Amtsarzt wird beauftragt, eine entsprechende Stellungnahme zu verfassen sowie allen anderen Verwaltern von US-Liegenschaften Untersuchungen auf DDT nahe zu legen.

14.30 Uhr: Wieder im Gesundheitsamt. Der Amtsarzt formuliert die Presseerklärung, in der er eine akute Gesundheitsgefahr ausschließt, faxt diese an Gemeinde und Bauamt und veröffentlicht sie später auch im Internet.

14.50 Uhr: Eine Verwaltungsangestellte teilt mit, dass in ihrem Zimmer das Heizungsventil defekt sei und die Heizung auf Hochtouren laufe.

15.00 Uhr: Durchsicht des Posteingangs. Die nächste Untersuchung eines Zollbeamten steht an. Eine Lehrerin ist nicht zum Dienst erschienen. Eine Schülerin hat das erste Halbjahr nicht mitgeturnt und der Schularzt soll jetzt nachträglich eine Sportbefreiung ausstellen, damit alles seine Ordnung für das Zeugnis hat. Wieder eine Anfrage an den Fettspezialisten des Gesundheitsamtes zur Bedeutung von Cholesterin. Letzte Woche hatte der Amtsarzt nach der Sendung des Bayerischen Rundfunks "Die Sprechstunde" Telefondienst gehabt. Von 21.00 bis 23.00 Uhr hatte er mit glühenden Ohren und am Ende heiserer Stimme und leerem Kopf einem viertel Hundert besorgten Bürgern Auskünfte zum Thema erteilt. Wie viele weitere hundert Anrufer nicht durchkamen und entsprechend erbost waren, weiß nur die Telekom.

15.30 Uhr: Gemeinsam mit seinen Sozialpädagoginnen versucht sich der Amtsarzt in Dreisatz und Prozentrechnen. Trotz allem Bemühen gelingt es nicht, herauszubekommen, wie die früheren Beraterinnen zu ihren statistischen Zahlen kamen.

16.00 Uhr: Der Amtsarzt verfasst eine Anfrage zur Notwendigkeit von Blasenverweilkathetern an den Leiter der entsprechenden Arbeitsgruppe der Kommission für Krankenhaushygiene des Robert Koch-Institutes. Bei seinen Altenheimbesichtigungen zusammen mit Kolleginnen vom MDK hatte er feststellen müssen, dass ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz der Insassen mit Urinkathetern versorgt war, obwohl sich bei den Diagnosen in der Pflegedokumentation kein Grund hierfür finden ließ. Er vermutet die Ursache deshalb in pflegerischen und materiellen Einsparungsmaßnahmen. Eine Gefährdung der Heimbewohner ist deshalb gegeben, weil mit der Verweildauer der Katheter das Risiko für Harnwegsinfektionen mit all ihren Komplikationen steigt. Bevor er mit den betroffenen Ärzten Rücksprache nimmt, möchte er sich mit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen wappnen, bei welchen Indikationen ein Dauerkatheter angezeigt ist und bei welchen nicht.

16.20 Uhr: Anruf einer besorgten Bürgerin. Bei ihrem Partner sei jetzt eine Hepatitis C festgestellt worden, was das denn sei und wie man sich schützen könne.

16.30 Uhr: Anfrage eines Reiselustigen, der Thailand durchstreifen möchte. Da dort das Malariarisiko je nach Gegend verschieden ist und der Anrufer einen Internetzugang hat, wird er auf die Reiseberatung in unserer Homepage verwiesen.

16.35 Uhr: Anruf vom Sozialdienst Katholischer Frauen. Eine verwahrloste alkoholabhängige Klientin sei gerüchteweise schwanger, verweigere aber jeden Kontakt. Was man denn tun könne.

16.40 Uhr: Abrufen der tagsüber eingegangenen E-Mails. Jemand möchte über die Risiken des Zungenpiercings aufgeklärt werden, ein anderer fragt an, nach welchem Zeitraum eine Impfung gegen Hepatitis B wirksam wird.

16.45 Uhr: Dienstschluss. Das Amt verwaist. Gerade möchte sich der Amtsarzt an seinen Artikel über DDT für die Homepage machen, da fällt ihm ein, dass seine geliebte Ehefrau heute Geburtstag hat. Die ganze Familie ist für 17.00 Uhr zum Bowling verabredet. Also wird der nächste Samstag für die kleine Doktorarbeit dran glauben müssen. Ein letzter Blick in den Amtskalender für morgen: Vormittags 20 Einschulungsuntersuchungen im Kindergarten, nachmittags Krankenhausbesichtigung. Also wenigstens keine E-mails und keine Anrufe, aber auch kein Büroschlaf.

(2000)


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