Abenteuer
eines Amtsarztes |
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26. Schüler
Die Schulgesundheitspflege hat das Ziel, gesundheitlichen Störungen vorzubeugen, sie frühzeitig zu erkennen und Wege für deren Behebung aufzuzeigen. Einschulungsuntersuchungen dienen der Feststellung, ob der Schulanfänger aus medizinischer Sicht am Unterricht mit genügendem Erfolg teilnehmen kann, also der Beurteilung der Schulfähigkeit. Dazu gehört auch die ärztliche Beratung bei der Auswahl geeigneter Förderschulen für behinderte Kinder. Früher wurden auch noch schulärztliche Reihenuntersuchungen in den 5. und 9. Klassen durchgeführt.
Es war noch zu dieser Zeit, als die besonders fortschrittlichen Schüler der 9. Klassen eines Gymnasiums zum Streik aufriefen. Sie weigerten sich schlichtweg, sich vom Schularzt untersuchen zu lassen, weil sie keinen Sinn darin sahen. Nach langen Verhandlungen zwischen Schule und Gesundheitsamt einigte man sich auf einen Kompromiss. Anstelle der eigentlichen Untersuchungen versammelten sich alle 9. Klassen in der Turnhalle und hörten sich einen Vortrag des Amtsarztes über Zweck und Notwendigkeit schulärztlicher Reihenuntersuchungen an. Dieser bot alle Überzeugungskräfte und Argumente auf, sodass die Schüler zumindest beeindruckt waren. Die Untersuchung beinhalte sowohl wichtige individualmedizinische, als auch bevölkerungsmedizinische Aspekte. Er zeigte auf, dass sich beispielsweise erst während der Schulzeit eine Kurzsichtigkeit oder behandlungsbedürftige Wirbelsäulenverbiegung entwickeln könne. Impflücken könnten aufgedeckt und geschlossen werden. Weiter sei es zur Beurteilung des Gesundheitszustandes der Gesamtbevölkerung erforderlich, auch in diesem Alter noch einen Jahrgang komplett durchzuuntersuchen. Hieraus könnten Gesundheitspolitiker wichtige Erkenntnisse für ihre Beschlüsse gewinnen. Und schließlich würden bei der späteren Musterung nur noch die Jungen, aber nicht mehr die Mädchen erfasst. Wie ein Schlag ins Gesicht musste es danach dem Amtsarzt vorkommen, als kurze Zeit später besagte Untersuchungen in den 9. Klassen vom Ministerium ersatzlos gestrichen wurden.
Die 11- bis 12-jährigen Kinder in den 5. Klassen waren bräver. Wie am Fließband ließen sie die Prozedur über sich ergehen, und eine solche war es schließlich auch, wenn bis zu 50 Schüler an einem Vormittag untersucht wurden. An einem dieser Tage wurde der Unterricht aber erheblich gestört. Der Lehrer erschien und fragte nach, was denn beim Schularzt vorgefallen sei. Seine Klasse sei außer Rand und Band und läge lachend in den Bänken. Der Amtsarzt konnte die Angelegenheit natürlich aufklären, aber nicht für Ruhe sorgen. Ein besonders aufgeregter Fünftklässler hätte eigentlich noch dringend vor der Untersuchung auf die Toilette gemusst, hatte es dann aber doch verschoben. Ausgerechnet als der Schularzt gerade dabei war, seine Genitalien auf das Vorliegen eines Hodenhochstandes oder einer Vorhautverengung zu überprüfen, brachen alle Dämme. In hohem Bogen ergoss sich ein warmer Strahl auf Hemd und Hose des verblüfften Untersuchers. Das hatte er noch nie erlebt, und die Kameraden des Unglücksknaben auch noch nicht. An einen geordneten Unterricht war an diesem Tag nicht mehr zu denken.
Noch gefährlicher lebt der Amtsarzt bei den Einschulungsuntersuchungen im Kindergarten. Wer jedes Jahr in 900 offene Münder schaut und dazu noch "A" sagen lässt, muss sich nicht wundern, wenn er per Tröpfcheninfektion alle Krankheiten einfängt, die gerade in der Gruppe kursieren. So litt der arme Schularzt drei Tage nach einer derartigen Untersuchung an Fieberschauern und Halsweh, als der Kindergarten einen Scharlachausbruch meldete. Ich weiß schon, konnte er nur noch krächzen.
Weiter musste der Amtsarzt erfahren, dass man selbst bei ordnungsgemäßer Untersuchung in Verruf geraten kann und beinahe mit einem Bein im Gefängnis steht. Eine aufgebrachte Mutter rief im Gesundheitsamt an und bezichtigte den Schularzt als Sittlichkeitsverbrecher. Dieser habe aus offensichtlich niederen Beweggründen die Genitalien ihres Sohnes betastet. So etwas könne doch keineswegs Bestandteil einer anständigen Untersuchung sein. Mühsam wurde ihr vermittelt, dass es eher einer ärztlichen Pflichtverletzung gleich käme, wenn dieser Bereich ausgespart würde. Anders könne man nun mal keinen Hodenhochstand diagnostizieren, der unbehandelt sogar zur Unfruchtbarkeit führen könne.
In der Einschulungsuntersuchung erlebt man wirklich das gesamte Spektrum unserer Bevölkerung. Hier erscheinen der künftige Bundeskanzler oder Hochschulprofessor genauso wie der spätere Verbrecher oder Obdachlose. Alle gehen einmal durch die Hände des Schularztes. Ihm werden alle denk- und undenkbaren Erziehungsstile vorgeführt. Da war die gefühlskalte Mutter, die ihr Kind im Winter ohne Mütze und Handschuhe in den Kindergarten brachte und ihm grundsätzlich die Teilnahme an Festen und Geburtstagsfeiern verbot. Da war der schon vormittags volltrunkene Vater, der krachend die einzige Stufe im Flur des Kindergartens hinabstürzte und bäuchlings zu liegen kam. Als sich der Alkoholdunst im Untersuchungszimmer wieder gelichtet hatte, konnte der Amtsarzt draußen ein noch fröhlich hüpfendes Kind erkennen, begleitet von seinem schwankenden Vater, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen eine Bierflasche. Da war die gedankenlose Mutter, die ihren 6-jährigen Sohn zu Höchstleistungen anspornte, die dieser aber nicht erfüllen konnte. Voller Verachtung äußerte sie vor ihm und dem entsetzten Schularzt: "Ich weiß schon, warum ich dein kleines Schwesterchen tausendmal lieber habe als dich!". Da war der freundliche Flüchtling aus Bosnien, der mit seinen vier ebenso freundlichen Kindern dem Bürgerkrieg entronnen war. Er arbeitete jetzt als Spüler in einer Spelunke, zuhause war er Neurochirurg gewesen. Diese Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Wer noch nicht genug hat, möge zur Geschichte "Die Brotzeitbank" zurückblättern.
(1993)