Abenteuer
eines Amtsarztes |
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6. Die Mülldeponie
Die folgende Geschichte könnte auch "David gegen Goliath" heißen. Es ging um die Erweiterung der ursprünglich als Übergangslösung gedachten und genehmigten Landkreisdeponie. Im Rahmen einer einwöchigen Erörterung konnten die Planer nochmals ihre Vorstellungen und die Einwender ihre Bedenken vortragen. Dabei zeigte sich, dass die Bürgerinitiative "Gremium für Umweltschutz" hochkarätige Experten mit Professorentitel ins Rennen schickte gegen bemitleidenswerte Sachbearbeiter der Behörden. Als später die Presse titelte "David hat gesiegt", meinte sie natürlich mit David das Gremium. Nach Eindruck des Amtsarztes war allerdings bei dieser Konstellation eher seine Riege als kleiner David anzusehen, der gegen einen übermächtigen Goliath zu bestehen hatte. Jedenfalls kamen die Behördenvertreter mächtig ins Schwitzen, da die Beschwerdeführer geschickt ihre Finger in jede Wunde legten. So konnten Berechnungsfehler und Schlampereien bei der Überwachung des bisherigen Betriebes aufgedeckt werden, wobei selbstverständlich das Gesundheitsamt ausgenommen war. Als im Lauf des Verfahrens auch der mehrmalige Nachweis gesundheitsgefährdender Stoffe wie polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (PAK) in Sickerwasser und Grundwasser angesprochen wurde, fühlte sich der Amtsarzt auf den Plan gerufen, zumal das Wasserwirtschaftsamt keine Erklärung für dieses Phänomen hatte. Schließlich konnte er nicht von der Hand weisen, dass alle mit dem Deponiebetrieb zusammenhängenden Belastungen wie Staub, Lärm, Gestank und Grundwasserverschmutzung auch Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben können. Es war eine der seltenen Gelegenheiten für Überstunden, da ein guter Beamter normalerweise mit seiner Arbeitszeit auszukommen hat. Am Freitagnachmittag sprengte der gefürchtetste Beistand der Bürgervereinigung, ein von den Betroffenen in Anspielung an seinen Namen als Dr. Heimsucher bezeichneter Hydrogeologe die Versammlung, indem er ausgerechnet den Verhandlungsführer der Regierung für befangen erklärte. Das folgende Wochenende begab sich der Amtsarzt zur Klausur ins Gesundheitsamt. 48 Stunden lang brütete er ununterbrochen über Aktenbergen, Plänen und Tausenden von Messergebnissen und tippte persönlich eine 26 Seiten umfassende Auswertung. Dabei kam er noch in Konflikt mit der über dem Amt wohnenden Hausmeistersfamilie, die sich durch das nächtliche Herumgehen und Schreibmaschinengehämmere verständlicherweise in ihrer Nachtruhe gestört fühlte. Letztendlich war sein Engagement von Erfolg gekrönt. Im Kernpunkt stand die Frage, ob die bestehende Deponie bereits undicht geworden war und deshalb Schadstoffe ins Grundwasser gelangten. Nach seinen rudimentären Schulkenntnissen in der Chemie hätten sich dann allerdings als erstes Änderungen in der Härte, Leitfähigkeit und bei den leichtgängigen Salzen im Grundwasser zeigen müssen, was nicht der Fall war, statt bei den vergleichsweise komplexen und wenig mobilen PAK. Wenn die Sohle der Müllkippe dicht war, woher konnten dann diese Schadstoffe kommen, die erst Jahre nach Nutzungsbeginn sowohl im Sickerwasser innerhalb als auch im Grundwasser außerhalb der Deponie aufgetreten waren? Hatte sich irgendetwas am Betrieb der Deponie geändert, das dieses Auftreten erklären konnte? Und der Amtsarzt kam tatsächlich auf des Rätsels Lösung. Genau zum fraglichen Zeitraum war Klärschlamm in zehnfach vermehrtem Umfang zur Müllkippe angeliefert worden. Im Klärschlamm finden sich nun wiederum nennenswerte Gehalte an PAK. Dieser war nicht nur in der Deponiewanne, sondern zur Vorbereitung der Rekultivierung auch an den Randwällen außerhalb abgelagert worden. Dies erklärte zwanglos das Ansteigen der PAKs im Sickerwasser als auch in den Grundwasserpegeln, ohne dass die Deponie wie befürchtet undicht geworden sein musste. Stolz und unrasiert gab der Amtsarzt die Früchte seiner Wochenendarbeit persönlich in der Regierung ab, erntete auch großes Lob vom Wasserwirtschaftsamt. Und das war es dann auch. Bald danach verschwanden seine Ausarbeitungen in der Versenkung, sprich in der Altregistratur im Keller. Der Landkreis hatte nämlich eine günstigere Entsorgungsmöglichkeit gefunden und gab deshalb die Deponieerweiterung auf. Letztendlich hätte der Amtsarzt also mehr für die Menschheit getan, wenn er das Wochenende im Kreis seiner Familie verbracht hätte.
(1991)