Abenteuer
eines Amtsarztes |
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5. Die Hölle
Wie diese umfangreiche Sammlung an Kurzgeschichten zeigt, ist das Leben des Amtsarztes von vielen Höhe- und Tiefpunkten gekennzeichnet. Ein besonders denkwürdiger Abend wird ihm für immer in Erinnerung bleiben. Die Vorgeschichte ist rasch erzählt. Sie spielt zu der Zeit, als die analytische Bestimmung von Pflanzenschutzmitteln im Trinkwasser noch in den Kinderschuhen steckte. Das Gesundheitsamt hatte alle Wasserversorgungsunternehmen dazu aufgefordert, erstmals auch ihr Wasser auf Pestizide untersuchen zu lassen. Und nun teilte die Gemeinde Ohlstadt mit, dass bei dieser orientierenden Untersuchung völlig überraschend das Unkrautvernichtungsmittel Simazin zweifach erhöht über dem Grenzwert der Trinkwasserverordnung von 0,1 µg/l festgestellt wurde. Die Kontrolle ergab, dass diesmal ein anderes Herbizid, nämlich Atrazin, ebenfalls fast zweifach über dem Grenzwert lag, während Simazin diesmal nicht mehr nachgewiesen wurde. Beide Befunde gaben insofern zunächst Rätsel auf, als weit und breit im Einzugsbereich des Brunnens keine landwirtschaftlichen Anwender von Pestiziden bekannt waren. Schließlich fiel der Verdacht des Gesundheitsamtes auf die Eisenbahn. Als denkbare Ursache für die Grundwasserverunreinigung kam die sogenannte Gleiskörperentkrautung oder Vegetationskontrolle in Betracht, wobei die Gleise eigentlich weit entfernt am Rande des Wasserschutzgebietes verliefen. Einmal im Jahr versprühte der Spritzwagen dort seine den Pflanzen todbringende Fracht. Pflichtgemäß trat das Gesundheitsamt in Aktion und entnahm eigene Proben, die es beim Landesuntersuchungsamt gezielt auf die dabei ausgebrachten Wirkstoffe untersuchen ließ. Leider musste dort die einschlägige Analytik erst entwickelt werden, sodass der Befund erst fünf Monate später vorlag. Und siehe da, erst zwei, dann drei der von der Bahn benannten Mittel wurden im Brunnenwasser nachgewiesen, wobei diesmal das Abbauprodukt AMPA des Pflanzenbehandlungsmittels Glyphosat sogar fünffach über dem Grenzwert lag. Die Kontrollbefunde, leider wieder erst ein Vierteljahr später eingegangen, bestätigten die Ergebnisse. Hier muss eingeflochten werden, dass der Grenzwert der Trinkwasserverordnung aus Vorsorgegründen sehr niedrig, nämlich an der Nachweisgrenze festgelegt ist, also nicht toxikologisch begründet ist. Deshalb sind bei Überschreiten dieses Grenzwertes auch noch keine gesundheitlichen Schädigungen zu erwarten. Auf den Amtsarzt kam nun das schier unmögliche Unterfangen zu, der Bevölkerung zu vermitteln, dass zwar ein Grenzwert deutlich überschritten sei, das Wasser aber dennoch ohne Gesundheitsgefahr abgegeben und genossen werden könne. Der diesbezügliche Ausnahmehöchstwert des Bundesgesundheitsamtes lag nämlich noch zwanzigfach über den Messwerten.
Der Bürgermeister lud zu einer Bürgerversammlung alle in Frage kommenden Behörden ein wie Landratsamt, Wasserwirtschaftsamt, Landesamt für Wasserwirtschaft, Landesuntersuchungsamt, Gesundheitsamt und natürlich die Bundesbahn. Aus welchem Grund auch immer erschien von diesen Eingeladenen nur der brave Amtsarzt auf dieser Veranstaltung. Zweieinhalb Stunden lang saß er mutterseelenallein schweißgebadet neben dem ebenfalls angeschlagenen Bürgermeister auf dem Podium und musste 200 aufgebrachten Bürgern im vollbesetzten Gemeindesaal mit zunehmender Verzweiflung Rede und Antwort stehen. Ungezählte Fragen prasselten auf den gebeutelten Bürgermeister nieder, der diese fast alle an den einzigen erschienenen Behördenvertreter weitergab. Warum denn die Untersuchung beim Landesuntersuchungsamt fast ein halbes Jahr gebraucht habe. Warum der Brunnen in Gleisnähe gebaut worden sei. Dies war zwanzig Jahre vor Amtsantritt des Amtsarztes und unter Planung des Wasserwirtschaftsamtes geschehen. Warum die Bahn weiter spritze, wo doch schon das Trinkwasser belastet sei. Der Amtsarzt äußerte - diesmal natürlich unter dem sonst seltenen Beifall der Anwesenden -, er nenne jemand, der weiterhin die Schadstoffe ausbringe, die bereits zu einer Grenzwertüberschreitung im Trinkwasser geführt hätten, einen Brunnenvergifter. Der Bericht in der Süddeutschen Zeitung unter der Schlagzeile "Wenn Pflanzengift die Suppe würzt" mit der etwas verkürzten Aussage, der Amtsarzt habe die Bahn als Brunnenvergifter bezeichnet, brachte ihm später noch den Anruf eines hohen Ministerialbeamten ein. Mehr und mehr wurde das Gesundheitsamt an diesem Abend in die Rolle des Übeltäters statt des erfolgreichen Ermittlers gedrängt. Schließlich wären die im Trinkwasser gefundenen Belastungen ohne seine gezielte Suche unentdeckt geblieben. Dass der Erklärungsspagat zwischen Grenzwert einerseits und Ausnahmehöchstwert andererseits nicht ganz gelang, konnte der Amtsarzt später der Zeitung entnehmen. Nach mehrheitlicher Meinung der Anwesenden sei nämlich die Veranstaltung eine "Bürgerbeschwichtigungsversammlung" gewesen. Zum Höhepunkt des Abends wurde dann der Versuch des Amtsarztes, die im Millionstelbereich gemessenen Konzentrationen mit Zuckerstücken im Starnberger See zu vergleichen. Hierauf erhob sich nämlich der Dorflehrer und hielt deutlich für alle sichtbar ein Glasschälchen mit einigen Zuckerwürfeln hoch, womit er verdeutlichen wollte, wie viel Gift die armen Bürger täglich zu sich nehmen müssten. Alle starrten wie hypnotisiert das Schälchen an. Dass er endgültig verloren hatte, merkte der Amtsarzt daran, dass selbst die bislang loyale Kellnerin nun äußerte, in Zukunft wolle sie lieber Bier als das verseuchte Wasser trinken.
Kurze Zeit nach dieser traumatischen Veranstaltung erklärte der Bürgermeister aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt. Vertreter von Filteranlagen und Mineralwasserlieferanten hatten Hochkonjunktur. Eine Kinderwagendemo aufgebrachter Mütter zum Bahnhof sorgte für neue Schlagzeilen. Bundesbahn und Hersteller des Spritzmittels äußerten Zweifel an der Zuverlässigkeit der Messungen des Landesuntersuchungsamtes. Neben laufenden Stellungnahmen für die Presse durfte der gestresste Amtsarzt zu allem Überfluss noch eine mit Anlagen 63 Seiten umfassende Darstellung der Geschehnisse für Ministerium und Landtag erstellen.
Ruhe kehrte erst wieder ein, als die Bahn freiwillig ihre Spritzfahrten einstellte und die Werte wieder unter die Nachweisgrenze fielen.
(1991)