Abenteuer
eines Amtsarztes |
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4. Gewissensnot
Den meisten Lesern wird nicht bekannt sein, dass die frühere DDR es verstanden hatte, die westdeutschen Amtsärzte in ihr Unrechtssystem mit einzubeziehen, und ihnen quasi den Kerkerschlüssel in die Hand gegeben hatte. In den "Anordnungen über Regelungen im Reiseverkehr von Bürgern der DDR" war nämlich festgelegt, dass diesen bei einer lebensgefährlichen Erkrankung eines Angehörigen im Westen die Ausreise gestattet werden konnte. Dies wiederum musste von einem Amtsarzt bestätigt werden. Das Vorgehen wurde durch ein Schreiben des Bundesgesundheitsministeriums vom 8.1.1973 weiter präzisiert. Auch im Deutschen Ärzteblatt vom 19.4.1979 wurde die Ärzteschaft auf das vorgeschriebene Verfahren hingewiesen.
Dementsprechend brachte eines Tages kurz vor der Wende ein älterer Landkreisbürger sein Anliegen im Gesundheitsamt vor: Er leide an Asthma und wolle sich den Strapazen einer Reise in die DDR nicht mehr unterziehen. Dabei würde er doch so gern seinen Enkel, der in der DDR lebe, noch einmal wiedersehen. Grundsätzlich fühle er sich mit seinen 74 Jahren zum Reisen noch nicht zu alt, aber es sei halt viel einfacher, wenn sein Enkel zu ihm käme. Dieser könne darüber hinaus auf seinem Besuch die Segnungen des Westens genießen.
Die körperliche Untersuchung ergab bis auf die für einen Asthmatiker typischen Lungenbefunde keine weiteren Auffälligkeiten, sodass streng genommen medizinisch die geforderte Lebensgefahr nicht bestätigt werden konnte. Tat der Amtsarzt dies dennoch, stellte er wider besseres Wissen ein unrichtiges Gesundheitszeugnis aus, nach § 278 StGB sogar eine Straftat. Verweigerte er das Attest, machte er sich zum verlängerten Arm des freiheitsbeschränkenden Systems. Wie hätten Sie entschieden?
Einen anderen Gewissenskonflikt brachte eine bayerische Bestimmung mit sich, wonach ausländische Ehegatten erst nach dreijähriger Ehe eine Aufenthaltserlaubnis erhalten konnten. Bis dahin waren jeweils nur dreimonatige Kurzbesuche mit Touristenvisum möglich, was ein vierteljährliches Pendeln erforderte. Auf einem dieser Eheurlaube war die 20 Jahre junge und erst 2 Jahre verheiratete Türkin schwanger geworden. Ausgerechnet kurz vor Weihnachten würde das Besuchervisum auslaufen. Die werdende Mutter wollte verständlicherweise lieber bei ihrem hier arbeitstätigen Ehemann in Deutschland bleiben, als allein in ihr ostanatolisches Bergdorf zurückkehren. Nach Auskunft des Ausländeramtes würde unsere Fürsorgepflicht am Flughafen in der Türkei enden, die weitere beschwerliche mehrstündige Busreise falle in die Verantwortung der dortigen Behörden. Allerdings könne das Visum bis nach Entbindung und Wochenbett verlängert werden, wenn der Amtsarzt Reiseunfähigkeit feststelle.
Die körperliche Untersuchung der gesunden kräftigen Frau erbrachte neben ihrem bekannten Zustand keine Befunde von Krankheitswert. Da selbstverständlich bei einer normalen komplikationslosen Schwangerschaft Reisefähigkeit gegeben ist, zumal ja nur der Flug zu beurteilen war, hätte also dieses Attest aus rein medizinischen Gründen nicht ausgestellt werden dürfen. Andererseits war die bayerische Regelung, dass ein eheliches Zusammenleben erst nach Ablauf von drei Jahren erlaubt sei, schon allein deshalb ungerecht, weil in anderen Bundesländern nur eine Einjahresfrist galt. Und diese war ja bei dem türkischen Ehepaar schon lange erfüllt. Unwillkürlich dachte der Amtsarzt - es war wie bereits erwähnt kurz vor Heiligabend - an den Satz im Lukasevangelium, Kapitel 2, Vers 7: " ...denn es war kein Platz in der Herberge". Wie hätten Sie entschieden?
Nachzutragen ist, dass das Bundesverfassungsgericht fast ein Jahr später die bayerische Dreijahresregelung für unwirksam erklärte. Sie verstoße gegen den Schutz von Ehe und Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes...
(1987)