Abenteuer
eines Amtsarztes |
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12. Die Hausbesitzerin
Immer wieder unterstellen Auftraggeber mit ihren Anfragen dem Amtsarzt übersinnliche oder hellseherische Fähigkeiten. Als Beispiele seien genannt:
Feststellung einer Reisekrankheit (Kinetose) bei Schülern, damit diese statt mit dem Bus mit dem Zug fahren dürfen.
Reifezustand eines 14-jährigen Bewerbers für den vorzeitigen Traktorführerschein, den er dann erhält, wenn er bereits die Reife eines 16-Jährigen erreicht hat (und wie ist diese?).
Prüfungsunfähigkeit eines Studenten nach angeblich gerade abgeklungenem Brechdurchfall oder Migräneanfall.
Dienstunfallfolgen nach Sturz auf ein bereits vorgeschädigtes Knie mit der Frage, ob das Ereignis einen mindestens gleichwertigen Schaden oder eine richtunggebende Verschlimmerung herbeigeführt hat.
Dienstfähigkeit eines demotivierten Ministerialdirigenten unter besonderer Würdigung seiner beruflichen Stressbelastung.
Beihilfefähigkeit exotischer Behandlungsmaßnahmen, deren phantasievolle Namen der Amtsarzt noch nie gehört hat.
Haftfähigkeit eines Festgenommenen, der das Wochenende bei der Polizei verbringen soll und angeblich an Zellenangst (Klaustrophobie) leidet.
Verhandlungsfähigkeit vor Gericht nach Einnahme von mehreren Beruhigungstabletten auf einmal.
Reisefähigkeit einer abgelehnten Asylbewerberin, die bei Abschiebung mit Selbstmord droht.
Dass der so überschätzte Amtsarzt in seinen
Schlussfolgerungen auch einmal schief liegen kann, soll die folgende Geschichte
zeigen. Im Auftrag der Staatsanwaltschaft war eine 53-jährige ledige,
katholische, schizophrene, ungelernte Aushilfskraft zu begutachten, die mit der
Axt die Wohnungstür ihres Vermieters eingeschlagen hatte. Die Fragestellung
lautete, ob die Beschuldigte für ihre Tat verantwortlich und für ihre Umgebung
gefährlich sei. Das Untersuchungsgespräch gestaltete sich so unterhaltsam,
dass es hier in Auszügen wiedergegeben werden soll:
Der Vater sei aristokratisch gewesen, ein geheimer
Bruder des Prinzen Klaus von Norwegen. Ihre Brüder seien von der Königin
Elisabeth erzogen und ausgebildet worden, die auch zum Vormund eingesetzt worden
sei. In den Schulferien sei auch Prinzessin Anne immer da gewesen. Ihre
Erziehung sei sehr streng gewesen, sie sei zum einen durch ihren Vater zu Fleiß
und Arbeitsamkeit erzogen worden, zum anderen hätten ihr die Mitglieder der
englischen Königsfamilie die entsprechenden Umgangsformen und Bildung
beigebracht. In der Schule sei ihr Lieblingslehrer Herr M. gewesen, vor allem
deshalb, weil er mit einer enormen Intelligenz ausgestattet gewesen sei. Sie
habe als einzige gewusst, dass diese Intelligenz durch seine adelige Herkunft
bestimmt sei, weil er in Wirklichkeit ein Prinz, und zwar der Bruder des Königs
Georg war. Die Berufswahl sei nicht aus freien Stücken erfolgt, sie habe den
landwirtschaftlichen Beruf auf Druck ihres Elternhauses erlernen müssen. Die Königin
Elisabeth habe hierüber immer sehr geschimpft, da sie eine derartige Ausbildung
nicht als standesgemäß betrachtet habe. Derzeit übe sie keinen Beruf mehr
aus, zuvor sei sie meist als Zimmermädchen in häufig wechselnden Stellungen
beschäftigt gewesen. Vor ihrem ersten Sexualkontakt im Alter von 20 Jahren habe
sie ihr Zukünftiger mit den Worten „Entweder jetzt oder nie“ vor die Wahl
gestellt. Zu ihrem Ehepartner, einem Sohn von Scheich Fahd von Oman, habe sie
stets ein harmonisches und gutes Verhältnis gehabt (tatsächlich ist sie
ledig). Sie sei ihm besonders zu Dank verpflichtet, da er ja wegen ihr auf alle
Nebenfrauen verzichtet habe. Diese Ehe habe einer speziellen Genehmigung durch
den Vatikan in Rom bedurft. Die Einverständniserklärung habe ihr der Papst
persönlich nach Garmisch-Partenkirchen überbracht. Er habe auch festgelegt,
dass die Heirat getrennt stattfinden sollte. Aus der Ehe seien vier Kinder
hervor gegangen, dabei seien ihre beiden Söhne künstlich und wissenschaftlich
in München gemacht worden (tatsächlich hat sie keine Kinder). Probleme gäbe
es nur mit dem ältesten Sohn, dieser sei mit den Terroristen verschworen und
zwar sowohl im arabischen Lager als auch bei der IRA in Nordirland. Ihr
Freundes- und Bekanntenkreis sei sehr gering, das liege eben schon daran, dass
ihr Umgang üblicherweise aus den besten Königshäusern Europas bestehe und es
hierfür in Garmisch wenig gleich gebildete Personen gäbe. An sozialen Bezügen
werden an erster Stelle die Prinzessinnen Margret und Anne genannt. Man feiere
in regelmäßigen Abständen große Familientreffen; letztmals seien alle königlichen
Verwandten im Hotel Badersee zusammen gekommen. Grund dieser Zusammenkunft sei
aber auch gewesen, die schulischen Leistungen ihrer Kinder zu besprechen. Zur
Verwandtschaft ihres Mannes habe sie dagegen nur spärliche, meist sehr kühle
Beziehungen. Einen Freundeskreis in Garmisch-Partenkirchen habe sie sich nicht
aufgebaut, die Menschen seien hier etwas kühl, läppisch, gelegentlich auch
zynisch. Im übrigen wünsche die Königin von England einen solch niedrigen
Umgang nicht. Zu ihrer Nachbarschaft habe sie kaum Kontakt, besonders weil die
Geheimpolizei des Scheichtums Oman deren Gedanken noch nicht überprüft habe.
Dies sei sehr wichtig, da sie unter der Überwachung
verschiedener dunkler Mächte stehe. Durch diese Mächte seien auch technische
Anlagen im Haus installiert worden, die geheimnisvolle Geräusche produzieren würden
und mit denen ihre Tätigkeit überwacht werde. Drahtzieher dieser Verschwörung
sei ein gewisser A., der bei ihr zur Miete wohne (tatsächlich ist es
umgekehrt). Dieser habe sich hartnäckig ihren mehrfachen Kündigungsschreiben
widersetzt. Da er auf diese mehrmals ergangenen Kündigungen nicht reagiert habe
und auch die Polizei, der sie dieses Problem vorgetragen habe, nichts gegen A.
unternommen habe, habe sie ja gar nicht anders gekonnt, als ihrer Forderung mit
einigen Axtschlägen auf die Wohnungstür des Herrn A. Nachdruck zu verleihen.
Der Amtsarzt diagnostizierte eine endogene Psychose vom
Typ einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie, betrachtete die
strafrechtliche Verantwortlichkeit als aufgehoben und empfahl die Errichtung
einer Betreuung sowie eine medikamentöse Behandlung (warum eigentlich?). Da die
Beschuldigte nach wie vor unter Verfolgungsideen leide, könne nicht
ausgeschlossen werden, dass es auch zukünftig – beispielsweise zur Abwehr
vermeintlicher Gefahren oder Verfolger – zu weiteren Gewalthandlungen kommen könne,
die Wahrscheinlichkeit für solche Situationen sei aber als gering einzuschätzen.
Das Gutachten hatte gerade das Haus verlassen, als die Nachricht einging, die
vermeintliche Hausbesitzerin habe inzwischen mit der Axt das ganze Treppengeländer
im Haus demoliert.
Irren (und Irresein) ist menschlich.
(1988)