Der Amtsarzt im ...

Abenteuer eines Amtsarztes
Unglaublich wahre Kurzgeschichten

... Lauf der Zeit

9. Der Kapitän

Nicht nur Taxi- und Busfahrer, sondern auch Bootsführer in der Binnenschifffahrt müssen regelmäßig ärztlich auf ihre Eignung untersucht werden. Dabei werden Seh- und Hörvermögen geprüft, neuerdings auch Orientierungsvermögen, Konzentrationsleistung und Reaktionsfähigkeit. Weiter wird festgestellt, ob Anzeichen für sonstige Krankheiten oder körperliche Mängel vorliegen, die den Probanden nicht als Schiffsführer geeignet erscheinen lassen. Dazu gehören beispielsweise Anfallsleiden sowie Bewusstseins- oder Gleichgewichtsstörungen, schwere Gliedmaßenfehlbildungen, Alkoholkrankheit oder Drogensucht sowie Gemüts- oder Geisteskrankheiten. Für den Laien sicherlich überraschend ist die Tatsache, dass nach den allgemein verbindlichen Begutachtungs-Leitlinien "Krankheit und Kraftverkehr" des Bundesverkehrsministeriums selbst Taubheit zwar die Personenbeförderung, nicht aber die Fahreignung an sich ausschließt. Laut diesen Richtlinien ergeben sich bei der Gehörlosigkeit oder hochgradigen Schwerhörigkeit keine besonderen Gefahrenlagen, wenn nicht weitere erhebliche Einschränkungen der Sinnestätigkeit oder grobe intellektuelle Schwächen die gesamte Leistungs- und Belastungsfähigkeit unter das erforderliche Maß herabsetzen.

Zur Untersuchung beim Amtsarzt erschien ein 77-jähriger schmächtiger, wettergegerbter Mann. Stolz berichtete er, dass er das Kapitänspatent besitze und früher die Weltmeere bereist habe. Seit seiner Pensionierung befördere er nun während des Sommers als Schiffsführer jeweils 40 Touristen auf einem der großen Seen des Landkreises. Er warte das Boot noch selbst und betanke es mit ebenfalls selbst herbeigeschafften Dieselkanistern. Noch nie habe es einen Unfall gegeben. Die Untersuchung zeigte insgesamt altersgemäße Befunde mit einem für Umgangssprache ausreichenden Hörvermögen und einer etwas verlangsamten Motorik. Trotz seines hohen Alters konnte ihm die gesundheitliche Eignung als Schiffsführer nicht abgesprochen werden. Vorsorglich wurden aber jährliche Kontrolluntersuchungen statt der routinemäßigen alle 5 Jahre angeordnet. Mit der Bejahung der Fahreignung setzte sich der Amtsarzt selbst unter Zugzwang. Jahr für Jahr erschien der Kapitän wieder, zwar weiter gealtert, aber gesund. Und weil der Amtsarzt einmal die Fahreignung bestätigt hatte und keine gravierenden Befunde hinzu kamen, konnte er sie ihm schlecht in den Folgejahren absprechen. Als der Kapitän auch noch mit 82 Jahren wieder zur Untersuchung auftauchte, zog der Amtsarzt schließlich die Notbremse. Er forderte zur Sicherheit ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung. Das Landratsamt erbarmte sich und gab sich mit dem Attest eines Internisten zufrieden. Nun hoffen alle, dass der greise Kapitän in der kommenden Saison von sich aus das Steuerrad aus der Hand legt.

(1998)


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