Der Amtsarzt im ...

Abenteuer eines Amtsarztes
Unglaublich wahre Kurzgeschichten

... Lauf der Zeit

12. Die Hausbesitzerin

Immer wieder unterstellen Auftraggeber mit ihren Anfragen dem Amtsarzt übersinnliche oder hellseherische Fähigkeiten. Als Beispiele seien genannt:

Dass der so überschätzte Amtsarzt in seinen Schlussfolgerungen auch einmal schief liegen kann, soll die folgende Geschichte zeigen. Im Auftrag der Staatsanwaltschaft war eine 53-jährige ledige, katholische, schizophrene, ungelernte Aushilfskraft zu begutachten, die mit der Axt die Wohnungstür ihres Vermieters eingeschlagen hatte. Die Fragestellung lautete, ob die Beschuldigte für ihre Tat verantwortlich und für ihre Umgebung gefährlich sei. Das Untersuchungsgespräch gestaltete sich so unterhaltsam, dass es hier in Auszügen wiedergegeben werden soll:
Der Vater sei aristokratisch gewesen, ein geheimer Bruder des Prinzen Klaus von Norwegen. Ihre Brüder seien von der Königin Elisabeth erzogen und ausgebildet worden, die auch zum Vormund eingesetzt worden sei. In den Schulferien sei auch Prinzessin Anne immer da gewesen. Ihre Erziehung sei sehr streng gewesen, sie sei zum einen durch ihren Vater zu Fleiß und Arbeitsamkeit erzogen worden, zum anderen hätten ihr die Mitglieder der englischen Königsfamilie die entsprechenden Umgangsformen und Bildung beigebracht. In der Schule sei ihr Lieblingslehrer Herr M. gewesen, vor allem deshalb, weil er mit einer enormen Intelligenz ausgestattet gewesen sei. Sie habe als einzige gewusst, dass diese Intelligenz durch seine adelige Herkunft bestimmt sei, weil er in Wirklichkeit ein Prinz, und zwar der Bruder des Königs Georg war. Die Berufswahl sei nicht aus freien Stücken erfolgt, sie habe den landwirtschaftlichen Beruf auf Druck ihres Elternhauses erlernen müssen. Die Königin Elisabeth habe hierüber immer sehr geschimpft, da sie eine derartige Ausbildung nicht als standesgemäß betrachtet habe. Derzeit übe sie keinen Beruf mehr aus, zuvor sei sie meist als Zimmermädchen in häufig wechselnden Stellungen beschäftigt gewesen. Vor ihrem ersten Sexualkontakt im Alter von 20 Jahren habe sie ihr Zukünftiger mit den Worten „Entweder jetzt oder nie“ vor die Wahl gestellt. Zu ihrem Ehepartner, einem Sohn von Scheich Fahd von Oman, habe sie stets ein harmonisches und gutes Verhältnis gehabt (tatsächlich ist sie ledig). Sie sei ihm besonders zu Dank verpflichtet, da er ja wegen ihr auf alle Nebenfrauen verzichtet habe. Diese Ehe habe einer speziellen Genehmigung durch den Vatikan in Rom bedurft. Die Einverständniserklärung habe ihr der Papst persönlich nach Garmisch-Partenkirchen überbracht. Er habe auch festgelegt, dass die Heirat getrennt stattfinden sollte. Aus der Ehe seien vier Kinder hervor gegangen, dabei seien ihre beiden Söhne künstlich und wissenschaftlich in München gemacht worden (tatsächlich hat sie keine Kinder). Probleme gäbe es nur mit dem ältesten Sohn, dieser sei mit den Terroristen verschworen und zwar sowohl im arabischen Lager als auch bei der IRA in Nordirland. Ihr Freundes- und Bekanntenkreis sei sehr gering, das liege eben schon daran, dass ihr Umgang üblicherweise aus den besten Königshäusern Europas bestehe und es hierfür in Garmisch wenig gleich gebildete Personen gäbe. An sozialen Bezügen werden an erster Stelle die Prinzessinnen Margret und Anne genannt. Man feiere in regelmäßigen Abständen große Familientreffen; letztmals seien alle königlichen Verwandten im Hotel Badersee zusammen gekommen. Grund dieser Zusammenkunft sei aber auch gewesen, die schulischen Leistungen ihrer Kinder zu besprechen. Zur Verwandtschaft ihres Mannes habe sie dagegen nur spärliche, meist sehr kühle Beziehungen. Einen Freundeskreis in Garmisch-Partenkirchen habe sie sich nicht aufgebaut, die Menschen seien hier etwas kühl, läppisch, gelegentlich auch zynisch. Im übrigen wünsche die Königin von England einen solch niedrigen Umgang nicht. Zu ihrer Nachbarschaft habe sie kaum Kontakt, besonders weil die Geheimpolizei des Scheichtums Oman deren Gedanken noch nicht überprüft habe.
Dies sei sehr wichtig, da sie unter der Überwachung verschiedener dunkler Mächte stehe. Durch diese Mächte seien auch technische Anlagen im Haus installiert worden, die geheimnisvolle Geräusche produzieren würden und mit denen ihre Tätigkeit überwacht werde. Drahtzieher dieser Verschwörung sei ein gewisser A., der bei ihr zur Miete wohne (tatsächlich ist es umgekehrt). Dieser habe sich hartnäckig ihren mehrfachen Kündigungsschreiben widersetzt. Da er auf diese mehrmals ergangenen Kündigungen nicht reagiert habe und auch die Polizei, der sie dieses Problem vorgetragen habe, nichts gegen A. unternommen habe, habe sie ja gar nicht anders gekonnt, als ihrer Forderung mit einigen Axtschlägen auf die Wohnungstür des Herrn A. Nachdruck zu verleihen.
Der Amtsarzt diagnostizierte eine endogene Psychose vom Typ einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie, betrachtete die strafrechtliche Verantwortlichkeit als aufgehoben und empfahl die Errichtung einer Betreuung sowie eine medikamentöse Behandlung (warum eigentlich?). Da die Beschuldigte nach wie vor unter Verfolgungsideen leide, könne nicht ausgeschlossen werden, dass es auch zukünftig – beispielsweise zur Abwehr vermeintlicher Gefahren oder Verfolger – zu weiteren Gewalthandlungen kommen könne, die Wahrscheinlichkeit für solche Situationen sei aber als gering einzuschätzen. Das Gutachten hatte gerade das Haus verlassen, als die Nachricht einging, die vermeintliche Hausbesitzerin habe inzwischen mit der Axt das ganze Treppengeländer im Haus demoliert.
Irren (und Irresein) ist menschlich.

 (1988)


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